Kaum hatte sie ihren Hausflur betreten, als ihr auch schon dieser merkwürdige Geruch in die Nase stieg. Da erst wurde ihr vollends klar, dass die Eingangstür nicht verschlossen gewesen war. Bewaffnet nur mit ihrem Picknickkorb, den sie langsam über ihren Kopf hob und dabei angestrengt in das Haus lauschte, schlich sie sich vorbei an ihrer Kellertür zur Küche. Nach kurzem Zögern trat sie ein - und fand diese genau so vor, wie sie sie in aller Eile verlassen hatte. Da stand noch die benutzte Kaffeetasse von heute Morgen und den kalten Toast hatte keiner angerührt. Angespannt lauschte sie wieder ins Haus und begab sich sehr leise und langsam in Richtung Wohnzimmer. Hier, so sagte ihr ihre Nase, wurde der Geruch stärker und plötzlich hörte sie auch leise Geräusche aus der Richtung ihres Ohrensessels. Vor Schreck hielt Anna die Luft an, ihr Herz drohte zu zerspringen. Sie hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Die Polizei rufen oder ins Wohnzimmer stürmen und zu versuchen, den Einbrecher einen so gehörigen Schrecken einzujagen, dass er sich aus dem Staub machte? Das Herz schlug ihr bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, dass alles Blut aus ihrem Kopf und Gesicht gewichen war. Wäre jetzt nur ihr Mann hier. Aber er konnte ihr nicht mehr helfen und wütend auf sich selbst, weil sie in einer Notsituation wieder einmal zuerst bedauerte, dass ihr Mann ihr nicht mehr helfen konnte, anstatt das Problem selber zu lösen, stürmte Anna unter lautem Gepolter ins Wohnzimmer.

Wie sie vermutet hatte, traf sie hier auf den Einbrecher, der sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht empfing. Er hatte tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, sich in ihren Ohrensessel zu setzen und ganz entspannt auf sie zu warten. Anna, immer noch den Korb hoch über ihren Kopf haltend, hatte beim Anblick des dreisten Einbrechers den Angriff abrupt gestoppt und stand nun verunsichert vor ihren Ohrensessel, in dem ein fremder Mann saß. Fassungslos starrte sie ihn mit offenem Mund an und ließ langsam den Arm mit ihrer Hand, die noch immer den Korbgriff umklammerte, wieder sinken. Vor ihr saß, mit übergeschlagenen Beinen, einen Arm ruhig auf der ausladenden Lehne abgelegt und mit dem Rücken in eine Ecke gekuschelt, ein junger Mann, der offensichtlich auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Er lächelte sie an und begann, da es Anna die Sprache verschlagen hatte, nach einigen Augenblicken an zu reden. „Guten Tag, Frau Sola. Bitte entschuldigen Sie, dass ich in Ihrem Wohnzimmer auf Sie gewartet habe.“, sagte er mit warmer, leiser Stimme. „Draußen war es bitter kalt und die Tür war nicht verschlossen. Erst dachte ich, Sie seien zu Hause und hätten nur die Klingel nicht gehört. Dann, nachdem ich entdeckt hatte, dass die Tür unverschlossen ist, machte ich mir Sorgen, dass Ihnen etwas geschehen sein könnte. Aber als ich sie im Haus und im Garten nicht fand, wurde mir klar, dass Sie nicht zu Hause sind und ich auf Sie warten oder wiederkommen musste. Wiederkommen allerdings wollte ich nicht. Ich glaube, dazu ist zu wichtig, was ich Ihnen erzählen möchte.“

Anna glaubte immer noch, dass sie noch träumte. Völlig aus der Fassung starrte sie den jungen Mann an und konnte immer noch keinen Ton rausbringen. Sie wusste einfach nicht, wie sie die Situation einschätzen und was sie nun tun sollte. Eines allerdings glaubte sie nun, da der Einbrecher zu ihr gesprochen hatte, zu spüren: sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Seine weiche, freundliche Stimme und die höfliche Art, wie er gesprochen hatte, machten ihr bewusst, dass von ihm keine Gefahr ausging. Er wollte ihr etwas mitteilen, das offenbar sehr wichtig war. Wichtig für sie! Angestrengt dachte sie nach, was für sie so wichtig sein könnte, dass er sogar einen Einbruch dafür beging – denn ein Einbruch war es trotz alledem! Misstrauisch ließ sie ihn keinen Augenblick aus den Augen, entspannte sich aber soweit, dass sie nun nicht mehr breitbeinig, mit vorgebeugtem Oberkörper und erhobenem Arm vor ihm stand, sondern aufrecht und mit vor der Brust verschränkten Armen. Noch sträubte sich alles in ihr, sein Verhalten in irgend einer Weise zu rechtfertigen oder zumindest ein bisschen weniger verantwortungslos zu finden. Seine Stimme jedoch und seine freundliche und höfliche Art, die in krassem Widerspruch zu seinem ungepflegten Äußeren standen, hatten sie ein wenig beschwichtigt.

Fast ein wenig wütend über ihre eigene Sprachlosigkeit räusperte sie sich und fragte dann misstrauisch, was er ihr zu erzählen hätte. „Ich habe gerade andere Sorgen als den Geschichten eines Einbrechers zu lauschen, der es sich dreist in meinem Sessel bequem gemacht hat, während ich nicht zu Hause war. Sagen Sie, weshalb Sie hergekommen sind und dann verschwinden sie wieder!“ Die Angst war einer leisen, unterschwelligen Wut gewichen, die sie nun nur schwer verbergen konnte. Und eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Sie wollte sogar unbedingt, dass er wusste, wie sie ihn und seine Geschichte beurteilte. Doch bevor ihre Geringschätzung für ihn weiter anwachsen konnte, erhob er sich aus dem Sessel und kam vorsichtig, mit zögernd ausgestreckter Hand, einen kleinen Schritt auf sie zu. Sah sie das richtig? War in seinem Gesicht tatsächlich Beschämung zu sehen? Das wunderte sie nun doch.

„Ich möchte mich, bevor ich Ihnen erzähle, weshalb ich gekommen bin, erst einmal vorstellen. Mein Name ist Stellan Lindberg. Ich lebe seit einigen Jahren in dieser Stadt, komme gelegentlich aber auch in andere Gegenden und in einem dieser Landstriche begegnete ich ...“