Da sie den Großteil an Zeit der letzten beiden Tage im Dunkeln der Höhle verbracht hatten, abgeschirmt von natürlicher Sonneneinstrahlung, zu der sich nahezu jedes Wesen empor windet, wurde die ersten paar Minuten unter freiem Himmel erst einmal richtig mit den Wimpern geklimpert, ehe die Sonnenflecken aus ihrem Sichtfeld entschwanden und die Elfen ihre Umgebung wieder gebührend wahr nehmen konnten. Nach den unzähligen Stunden in der muffigen, undurchdringlichen, düsteren und Hoffnung raubenden Finsternis, schien der erste Atemzug wie eine Offenbarung, der schneidende, kalte Wind wie das pure Leben. Auch die Schneeflocken schienen plötzlich jeder für sich eine charakteristische, kristalline Form aufzuweisen. Jede Kleinigkeit nahm man war, sah den dünnen weiß-grau-blau verschwimmenden Streifen, wo Himmel und Landschaft weit draußen aufeinander trafen.
Dieser Blick auf die unendlichen Weiten berauschte die mental erschöpften Elfen so sehr, dass sich dazu aufraffen konnten, den Rücktritt anzutreten, selbst wenn jedem von ihnen klar war, einen Teil ihres Herzens hier zurück zu lassen, solange der Weihnachtsmann in diesem behausbaren Grab weilte.
Doch Angus konnte nicht so leicht über das Erfahrene hinweg gehen, konnte nicht das gramverzerrte, vom Leid gezeichnete Gesicht vergessen, die vor Schmerz weit geöffneten Augen, ganz zu schweigen von der Stimme, die in Schmerz gebadet, nahezu ertränkt war, beinahe gebrochen. Ganz zu schweigen von der Geschichte, welche ihm in dieser Weise dargeboten worden war, an sich schon so herzerweichend und mitleiderregend, dass einem schier dass Herz vergehen wolle, doch so vorgetragen, erschien einem das Leben geradezu unerträglich. Er konnte gar nicht ermessen, wie es war, sein Lebenswerk von Jahrtausenden zunichte gemacht, in Trümmern vor sich liegen zu sehen. Aber er verstand jetzt mehr von diese Welt, von der Aurora, den Freuden und Beschwernisse, ja, man könnte genau so gut Folter nennen, des Weihnachtsmannes sowie dessen Beweggründe, nicht mit ihnen zu gehen. Wenn man es genau nahm, konnte man diesen alten, uralten Mann nicht einmal mehr so nennen. Diese Tatsache verstörte Angus mehr, als es die ansässigen Elfen je könnte, da er es nicht anders kannte, sie schon. Er war in einer Welt gefüllt mit Liebe, Achtung, Wertschätzung, Weihnachtsgesängen, Rentieren, Lebkuchen, Zuckerstangen und Spielzeugen, so viele die Hände erschaffen konnten, aufgewachsen, wo die anderen Elfen doch ein Dasein voller Entbehrung, Trostlosigkeit und Isolation geführt haben, niemals von irgendjemanden geehrt, nicht dazu in der Lage, ihrer wahren Bestimmung nachzugehen. Ebenso wenig, wie es der Weihnachtsmann konnte.
Und einmal mehr schwoll der Hass in seiner Brust an, die unbändige Wut über die Ungerechtigkeit, welche das Volk aufgrund der früheren Herrscher hatte erdulden müssen und immer noch tat. Der Umstand, dass seine Familie nicht der Hauptschuldenträger dieses Fiaskos gewesen war, trug nicht zur Minderung seiner Gefühlswallungen bei, waren sie doch nur ein weiteres paar Tyrannen. Thronnräuber, die ihre Chance gewittert hatten, als das Volk sich entzürnt auflehnte. Und so führte das Eine zum Anderen - die Knechtschaft ging weiter, Weihnachten war von der Oberschicht fürderhin verhasst, vom Königshaus per Erlass verboten. Sie wollten die Menschen brechen, Stück für Stück, ihnen die Liebe und Freude nehmen, bis sie namenslose Marionetten waren, die die Arbeit für sie verrichteten. Damit sie im Wohlstand leben konnten. Glückwunsch, dachte Angus voller Sarkasmus, ihr habt es geschafft.
Die Fahrt mit den Schlittenhunden ging zügig vonstatten, doch so sehr sich Angus bemühte, seinen Husky in die richtige Richtung zu lenken. drifteten seine Gedanken immer wieder ab. Und anstatt dass er das weite weiße Umland sah, schob sich das Bild des kleinen Zimmers vor seine Augen, in welchem ein alter hagerer Mann die Arme um seine Knie geschlungen hatte und vor und zurück wippte. Mit starrem Blick schaute er links an einem vorbei, etwas über Schulterhöhe, direkt an die Wand. Die spröden, eingerissenen Lippen bewegten sich, formten Worte, die erst Mal zu Mal zu vernehmen waren. Den ersten Part der Erzählung hatte Angus verpasst, doch konnte er sich die wichtigsten Fakten und die bisherige Handlung zusammenreimen. Auf jeden Fall stand fest, dass sie von einem jungen Mann handelte, voll von Idealismus und viel Trauer im Herzen, der einen Schritt vollführte, der sein gesamtes Leben ändern sollte. Dieser ging durch die Aurora aus der einen in die andere Welt. Und auf der anderen Seite wurde ein junger Mann zurückgelassen, dessen Herz nicht minder schwer war. Die Rede war von dessen Halbbruder, Angus´ Vorgesetzten. Beide wollten Liebe in der Welt verbreiten, den Sinn für Ruhe, Freundschaft und Harmonie. Und warum das nur in einer versuchen, wenn es doch zwei gab? So machte sich der jüngere der beiden, ein Halbelf wie Angus selbst, auf die Reise ins Unbekannte. Auf die Idee, die Aurora katapultiere einen nach konkretem Wunsch des Reisenden in das jeweilige Jahrhundert oder sein Bruder könne ihm jemals folgen wollen, es aufgrund seiner Herkunft jedoch nicht schaffen, ist er nie gekommen. Wie hätte er denn ahnen sollen, dass nur Wesen mit Elfenblut in den Adern die Barriere überwinden konnten? Oder, noch verwundernswerter, dass sein Bruder vom Blut her nicht sein wahrhaftiges Geschwisterkind war? Er konnte nur stets von der Ferne aus einen Blick auf ihn werfen, stolz auf dessen Arbeit, doch zu sehr mit der eigenen beschäftigt, als dass er ihn hätten besuchen könne. Und so strichen die Jahre ins Land. Bis es zur nächsten Begegnung hatte kommen sollen, waren einige Jahrhunderte vergangen, ohne dass sie die enorme Zeitspanne recht wahrgenommen hatten, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ihnen die Unsterblichkeit zugesprochen worden war.
War es früher noch eine Erleichterung für den jungen Bruder gewesen, ein rechtes Auge auf seinen Großen werfen zu könne, wurde es nach seinem Sturz zu einer lang anhaltende Qual, die unzähligen vor Freude glühenden, pausbackigen Gesichter der Kinder zu sehen, wobei die im eigenen Land so sehr unter der Unterdrückung zu leiden hatten oder die Weihnachtselfen auf der anderen Seite zu sehen, wie sie tüchtig und mit dem Elan von Personen, die ihre Arbeit liebten, ihr Tagewerk vollbrachten, wo doch die eigenen Freunde und Helfer an der Arbeitslosigkeit schwer zu knabbern hatten. Ganz zu schweigen davon, seinen vor Freude strahlenden Bruder zu beobachten, der sichtlich erfüllt von seiner Arbeit war, wohl wissend, dass sein jüngerer Bruder große Stücke auf ihn hielt. Würde dieser nun den kleinen Bruder sehen, so erschiene auf dessen Gesicht, so war sich der Weihnachtsmann sicher, bestimmt ein Ausdruck des Mitleids, der Anteilnahme sowie des Bedauerns und der Einsicht, es hätte nicht anders kommen können, das Werk seines kleinen Bruder wäre von vornherein her zum Scheitern verurteilt gewesen. Und diesen Gedanken konnte die gramgebeugte Gestalt nicht ertragen; er wollte seinen Bruder nicht enttäuschen. Und diesen Wunsch konnte Angus nur allzu gut nachvollziehen.
Als Angus sich abends nun auf die harte Erde bettete, in seinen warmen Schlafsack eingekuschelt vor sich hin starrte, die Hitze des Feuers auf der einen Seite fühlend, ging er noch einmal die wichtigsten Informationen durch, die ihm im Laufe der letzten Tage offenbart worden waren: 1. Der Weihnachtsmann hatte einen Halbbruder, 2. Die Aurora transportierte nur Wesen mit Elfenblut und 3. ließ sie sich steuern, was die Zeit betraf, in der man landen wollte, sowie 4. der Umstand, dass sein Großvater Elfenblut in sich besaß, wodurch er in seine Welt gelangen konnte und 5., dass der Weihnachtsmann dieser Welt seine Berufung aufgegeben hatte und sich weigerte, wieder in den Dienst zu treten. Kein Weihnachtsmann mehr, der für sie die Geschenke austeilen würde. Sie standen vor dem Rande eines Abgrunds. Und genau so fühlte es sich an, als Angus in den Schlaf glitt - nur ein paar Meter sollten entscheiden, ob er fiel, oder geschickt genug war, nicht hinein zu schlittern.