Verwundert starrte sie in die Dunkelheit hinaus und versuchte, die Worte, welche sie soeben geäußert hatte, zu verfolgen, sie einzufangen und ihre Bedeutung zu entschlüsseln. Die Buchstabenreihenfolge ergab für sie einfach keinen Sinn, weil sie kein Bild in ihrem Kopf entstehen ließen. Gleichzeitig konnte sie ihren Mund aber nicht davon abhalten, neue Worte zu bilden, welche sie weiterbringen sollten. Mit jedem ausgesprochenen Laut konnte sie sich die Szene besser vorstellen; auf einmal konnte sie eine Möglichkeit sehen, ihr Kind über den Winter zu bringen - eine vorübergehende Lösung, die ihr aber genau jene kostbaren Momente liefern konnte, welche sie brauchte, um einen richtigen Job finden zu können.
Die Idee kam nicht aus dem Nichts, sondern hatte schon die ganze Zeit über in ihr geschlummert; es hat nur den zündenden Funken gebraucht, um diese Möglichkeit wieder in ihr aufleben zu lassen. Und den Mut, weil sie doch trotz all der Not das Rampenlicht scheute, weshalb sie es sich zuvor nicht hatte ausmalen können, ihre Stimme zu nutzen, um ihr eigenes Leben zu retten. Sie musste es jedoch tun, weil die Zeit davonrannte. Die Situation verhielt sich ja nicht einmal so, dass sie nie zuvor vor anderen gesungen und Piano gespielt hatte - die alte Familie, bei der sie zuvor gearbeitet hat, besaß zwei Kinder, um welche sie selbst sich die meiste Zeit gekümmert hat. Sie hat neben den organisatorischen Aufgaben auch noch die Erziehung der Kinder übernommen, sie hat an ihren Betten gesessen und Guten-Nacht-Lieder gesungen oder bei deren Geburtstagen Piano gespielt und ein paar Performances hingelegt, um ihnen eine Freude zu bereiten.
Doch es war immer etwas anderes für sie gewesen, das vor einem großen Publikum zu tun. Ihre Angst hat sie davon abgehalten, doch nun brannte ihr Wille heißer als die kalte Angst, welche sie so lange zum Stillstand gezwungen hatte und ließ die eisigen Fesseln schmelzen. Sie hatte nicht mehr viel zu verlieren, aber umso mehr zu gewinnen. Sie gab sich nicht den Illusionen hin, dass sie furchtlos ihre Stimme von Anfang an erklingen lassen und sie begeistert mit der Welt teilen würde, doch das war in Ordnung. Manche Dinge mussten sich erst entwickeln, um ihr ganze Wirkung zu entfachen. Damit sich jedoch überhaupt etwas entwickeln konnte, brauchte sie erst einmal einen Anfang, einen Ort, Lieder, die sie performen konnte.
Sie ließ ihr inneres Auge über die imaginäre Map der Stadt wandern und entschied sich, den Marktplatz zu wählen, welcher direkt neben der großen Shoppingmal lag und den Beginn der Shoppingmeile ankündigte. Die Frage wäre nur, welche Lieder sie singen könnte, schließlich musste sie gegen eine kleinere Gruppe von anderen Artisten antreten. Ohne gute Lieder hatte sie keine große Chance. Der selbe Gedanke schien auch Keona gekommen zu sein, welche Lucia's Gedankenwirbel durchstach und Platz für Ruhe schaffte.
"Als ich durch die Straßen der Stadt gewandelt bin, habe ich vielen Liedern gelauscht. Doch bei all den Liedern hörte ich nicht einen weihnachtlichen Ton. Dabei brauchen deine Mitmenschen das gerade am meisten. Vielleicht ist es nicht originell, aber viele große Freuden hat man auch schon im Kleinen gefunden." Da musste Lucia ihr zustimmen. Die Frage, was sie singen sollte, hat sich damit anscheinend wie von selbst gelöst, doch sie selbst hatte schon so lange nicht mehr Weihnachten gefeiert, dass ihr auf Anhieb kein Text einfallen wollte. Woher jedoch sollte sie ansonsten die Lieder bekommen?