Manchmal, wenn er nachts auf seine Smartwatch schaute, nachdem er die ganzen Stunden zuvor auf der Straße unterwegs gewesen ist, kann er den Zahlen auf dem Display nicht glauben, weshalb er erneut aufstand und ein paar Schritte läuft, um herauszufinden, ob sie seine Bewegungen ordentlich trackt. Wenn sich dann jedes Mal aufs Neue herausstellt, dass sie einwandfrei funktioniert, legt er sich kopfschüttelnd wieder zurück ins Bett und versinkt in seiner Matratze.

Er hätte niemals von sich behauptet, dass er sportlich ist - dafür hatte er Videospiele und Comics einfach zu gerne. Und wenn er einmal kein Interesse daran hatte, in diese fremden Welten einzutauchen, so dachte er immer noch lieber über seine eigenen Ideen nach oder recherchierte irgendwelche Fakten, die er womöglich niemals im Leben brauchen würde. Doch auf der anderen Seite war es einfach zu spannend, zu wissen, wie man eine Dyson-Sphäre bauen konnte, wie viel der BCOIN momentan Wert war, in welchen Untiefen sich der Vampirtintenfisch aufhielt oder was die perfekten Temperaturen für das Schmieden eines Schwertes waren. Die Welt war für ihn zu spannend, um den Fuß vor die Tür zu setzen. Nun aber verschlug es ihn immer häufiger hinaus, in die Nacht hinein, in die Dunkelheit, welche ihn wie einen Mantel umgab.

Die Stille, durchbrochen von ein paar nächtlichen Lauten, verdichtete sich zu einem Paar Ohropax, welches verhinderte, dass er seine eigenen Gedanken vernehmen konnte. Jeder monotone Schritt brachte ihm Frieden, Ausgewogenheit. Deshalb bekam er seine Umgebung in der Regel auch nur selten mit - normalerweise starrte er einfach seine Schuhe in Grund und Boden, den Mund im Schal vergraben, die Augen beinahe vollständig unter der Mütze verborgen, sodass nur ein schmales Band seines Gesichtes zu sehen war. Damit wollte er verhindern, dass ihn irgendjemand erkannte oder - was viel wahrscheinlicher war - ansprach. Er kannte nicht viele Leute, nicht einmal in der Uni, da alle Vorlesungen nur noch digital abliefen, schließlich funktionierte es für Informatikstudenten besser, an ihrem Arbeitsrechner zu sitzen. Zu den ganzen Feiern, welche der Jahrgang schmiss, wollte er aber auch nicht gehen. Alleine der Gedanke an den Smalltalk und die Menschenmassen bereiteten ihm klaustrophobische Gedanken. So kannte er seine Kommilitonen nur vom Sehen her, doch ein Wort hatte er mit ihnen noch nie gewechselt, weshalb er nun alleine durch die Gassen der Stadt wanderte, welche er besser als deren Bewohner kannte.

Am Anfang, als er noch nicht jeden Pflasterstein, nicht jeden einzelnen Riss in den Fassaden der Häuser kannte, hatte er sich verschiedene Routenmuster ersonnen, die ihn den Ariadnefaden gleich am Ende wieder Nachhause führen sollten. Am Anfang ist er immer nur zweimal links, zweimal rechts abgebogen - und das im Wechsel. Doch mit der Zeit wurde das langweilig, weshalb er begann, erst einmal links, dann zweimal rechts, dann dreimal links, dann viermal rechts etc. abzubiegen, was letztendlich dazu geführt hat, dass er die Umgebung nun wie seine Westentasche kannte. Das führte letztendlich aber auch dazu, dass er seine Umgebung nicht mehr wirklich im Visier hatte und deshalb unbeabsichtigt in jemanden hineinlief.

Er konnte sich nicht mehr ganz abbremsen, sodass die Person mit einem lauten Klatscher auf den Hintern fiel. Ein Meer aus Büchern ergoss sich über den Boden, während sich die Person lauthals über seine Ungeschicktheit ausließ. Er murmelte die Entschuldigung leise in seinen Schal hinein und bückte sich, um die schmutzigen Bücher vom feuchten Asphalt aufzuklauben. Die schmalen Hefte an seiner Jacke abwischend, richtete er sich auf, doch er hielt seinen Blick nach wie vor gesenkt, um sie nicht anschauen zu müssen. Deshalb begann er auch, die Bücher eingehender zu studieren, um den Blickkontakt vermeiden zu können - vielleicht kannte er auch das ein oder andere Buch und konnte einen lustigen Kommentar fallen lassen, um das Eis zu brechen. Doch erst da fiel ihm auf, dass es sich bei den Heften um Weihnachtsbücher handelte, die in blauen Covern erstrahlten. "Nikolaus im Tanz mit den Schneeflocken" und "A. H. Aurelians Weihnachtsabenteuer".

Stirnrunzelnd blickte er auf die Titel hinab, da er es verwunderlich fand, dass überhaupt noch jemand Weihnachten feierte und dazu auch noch Bücher darüber las. Es kam ihm so vor, als wäre er in das letzte Jahrhundert zurückversetzt worden. Warum sollte jemand das noch lesen? "Wenn du meine Bücher lange genug angeschaut hast, hätte ich sie gerne wieder. Danke.", sagte eine selbstbewusste Stimme, die keine Widerworte zu dulden schien. Ihre Stimme kontrastierte so stark mit ihrem Aussehen, dass er ein paar Sekunden brauchte, um ihr die Bände in die Hand zu drücken. Sein merkwürdiges Gebaren schien sie allerdings überhaupt nicht zu interessieren; sie freute sich lediglich, ihre Bände wieder zuhaben. Ihr altersloses Gesicht schien zufrieden und unbekümmert, als würde ihr die ganze Welt zu Füßen liegen, weshalb es für sie nur natürlich schien, weiterzureden und darauf zu Vertrauen, dass er ihren Worten gebannt folgen würde.

Ihre Lippen waren wie ein Wasserfall, der alle mit riss. "Ich hoffe, du rempelst nicht alle Leute an, die dir bei Nacht begegnen. Für so eine schmale Gestalt hast du nämlich ein ausgesprochen großes Talent, den ganzen Gehweg einzunehmen.", sagte sie in einem Affenzahn. "Du kannst froh sein, dass meine Bücher schon mehr aushalten mussten, als unaufmerksame Menschen wie dich. Sie geraten in Vergessenheit, was noch schlimmer ist! Es ist zu schade, dass Menschen den alten Geschichten keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Das fängt bei diesen Büchern an und geht weiter bei >Eine Weihnachtsgeschichte< und >Der Grinch<. Einfach nur traurig - nur, weil sie es nicht auf dem Computer spielen können, verliert es auf einmal bei den jungen Menschen an Wert. Was für eine Schande - dabei würden sich diese Bücher auch ausgezeichnet für eine Spielevorlage eignen. Ich würde die große Bücherei aus >A. H. Aurelians Weihnachtsabenteuer" nur zu gerne sehen oder wie er durch die Welten reisen! Oder ich würde liebend gerne die geheimen Höhlen der Annea sehen! Ich habe so viele Ideen, kann sie aber leider nicht umsetzen..."

Gedankenverloren jagte sie ihren eigenen Visionen hinterher, sodass sie keinen weiteren Ton von sich gab. Das bot Enyo die Gelegenheit, ganz perplex in die Stille zu sagen, dass er programmieren könne und später als Gamingdesigner arbeiten wolle. Er wusste nicht einmal genau, weshalb er das sagte, doch die Situation gebot es ihm aus unerfindlichen Gründen. Dieses Mädchen schien etwas an sich zu haben, was seine Zunge löste. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass sie ebenfalls seinen Discordnamen aus ihm herauskitzelte und Sekunden später verschwunden war, ohne dass er dies richtig hatte registrieren können. Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte; den ganzen Rückweg über kreisten seine Gedankengänge um sie, doch sein Ziel erreichte er dadurch nicht. Stattdessen war er sich sogar ziemlich sicher, dass sie ihm, selbst wenn sie ihm schreiben würde, suspekt bleiben wird. Er konnte ihre Essenz einfach nicht greifen - beinahe schien sie ein Wesen aus einer anderen Welt zu sein, ein Teil der Bücher, welche sie so begeistert las.